Durch die Atomkatastrophe von Fukushima gelangten enorme Mengen an Radioaktivität in die Umwelt. Während von Seiten der japanischen Behörden viel über die Kontamination mit radioaktivem Jod und Cäsium gesprochen wurde und diese Radioisotope auch regelmäßig in Boden-, Wasser- und Nahrungsmittelproben gemessen werden, wird die Belastung von Mensch und Umwelt mit radioaktivem Strontium totgeschwiegen.
Kontaminationskarten existieren nicht, Strontium-Messungen werden allenfalls sporadisch von einzelnen Forschungsgruppen durchgeführt und in der Nahrungsmittel-Datenbank, die für die Berechnung der Strahlenlast der Bevölkerung durch kontaminierte Nahrung herangezogen wird, wird nach Strontium gar nicht erst gesucht. Dabei ist bekannt, dass in den Zähnen und Knochen von Nutztieren in Fukushima durchaus relevante Mengen an radioaktivem Strontium festgestellt wurde (wir berichtenen: http://news.ippnw.de/index.php?id=960 ).
Unabhängige WissenschaftlerInnen in Japan haben sich nun zum Ziel gesetzt, die Belastung der Bevölkerung mit radioaktivem Strontium zu untersuchen - und damit auf die bislang ausgeblendeten Risiken für Leukämien und Formen von Knochenkrebs bei Bewohnern der verstrahlten Gebiete aufmerksam zu machen - insbesondere bei Kindern, die ein deutlich höheres Erkrankungsrisiko haben als Erwachsene.
In den kommenden Jahren sollen in ganz Japan Milchzähne gesammelt werden, um ihren Strontiumgehalt zu messen. Dabei ist es wichtig, dass nicht nur Kinder aus den besonders kontaminierten Gebieten, sondern Menschen aller Altersgruppen und aus ganz Japan ihre Milchzähne spenden, um so die Analyse zeitlicher und örtlicher Unterschiede in der Strontiumkonzentration möglich zu machen. Die Messdaten dieser Milchzahnstudie könnten dann als Biomarker für die Gesamt-Strontiumexposition einzelner Bevölkerungs- und Altersgruppen herangezogen werden.
Zudem werden mit der Milchzahnspende Angaben zur Ernährung während der Säuglingszeit (Muttermilch oder Milchpulver, Flaschen- oder Leitungswasser) und der Wohnhistorie gemacht. Aus vergangenen Studien weiß man, dass die Ernährung im ersten Lebensjahr maßgeblichen Einfluss auf die Strontiumbelastung des Körpers hat. Dieser Faktor soll auch in Japan untersucht werden, um ggf. entsprechende Empfehlungen für Säuglinge machen zu können.
Der Nachweis von Strontium in Zähnen ist technisch recht aufwändig und komplex, so dass die InitiatorInnen der Studie internationale Expertise aus dem Kantonslabor Basel einholten, wo man sich gut mit den Verfahren des Strontiumnachweises auskennt. Die ersten 100 Milchzähne aus Japan werden derzeit in Basel untersucht. Perspektivisch ist geplant, die Untersuchungen in Japan durchzuführen, doch hierfür muss erst ein entsprechendes Labor eingerichtet und Personal geschult werden. Das Forscherteam ist jedoch zuversichtlich, dass die Ergebnisse am Ende den Aufwand rechtfertigen werden und planen, die Studie über mehrere Jahrzehnte durchzuführen, um so die zeitliche Veränderung der Strontiumbelastung der Bevölkerung zu dokumentieren. Strontium hat eine physikalische Halbwertszeit von 28,8 Jahren.
Das Ziel der Studie sei es, das wahre Ausmaß der Strontium-Kontamination festzustellen, Empfehlungen an die betroffenen Gemeinden und Präfekturen zu geben und so die Gesundheit der betroffenen Kinder zu schützen. Die deutsche Sektion der IPPNW unterstützt die japanische Milchzahn-Studie und ist Mitglied im Preserving Decidious Teeth Network (PDTN), einem Fördernetzwerk, das helfen soll, die Studie in Gang zu bringen. Die ersten Ergebnisse werden bereits in einigen Jahren erwartet, wobei die beteiligten Wissenschaftler um Geduld bitten. Die meisten Milchzähne fallen im Alter von 5-7 Jahren aus, so dass Strontiumbelastungen nur mit einer mehrjährigen Latenz gemessen werden können.
Die Tatsache, dass diese wichtige Untersuchung nicht von offizieller Stelle sondern von unabhängigen WissenschaftlerInnen durchgeführt wird, sagt viel aus über die politischen Verhältnisse in Japan, wo staatliche Institutionen auf allen Ebenen unter massivem Einfluss der Atomwirtschaft stehen und von oberster Stelle gefordert wird, die Akte Fukushima baldmöglich zu schließen. Die Arbeit der Wissenschaftler des PDTN ist hier ein wichtiger Beitrag, die Menschen in den verstrahlten Gebieten nicht ihrem Schicksal zu überlassen sondern mit guter Wissenschaft Druck auf die Politik und die zuständigen Behörden zu machen.
Von Dr. Alex Rosen
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